Die Idee

 

Als Walter Benjamin in der Nähe von Perpignan ankam, war es fast vorbei. Ein paar Kilometer waren es noch bis zur spanischen Grenze, viereinhalb Stunden Wanderung über die Pyrenäen bis nach Port Bou. Man sollte meinen, dass Benjamin, der König der Fußwege, der Wanderungen und Passagen diese paar Kilometer schnell hätte erledigen können. Aber er war krank, hatte Herzprobleme, musste sich alle paar Minuten hinsetzen, und wollte eigentlich nur sein letztes Manuskript, dass er in einer Ledertasche bei sich trug – und vermutlich auch sich selbst – vor den Nationalsozialisten in Sicherheit bringen.

Benjamin schaffte es bis nach Port Bou, der ersten kleinen Stadt hinter der spanischen Grenze. Nicht weiter. Heute kann man dort einen Kiesel auf seinen Grabstein legen, die Inschrift „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“ darauf lesen, man kann eine Zigarette an dem Denkmal rauchen, das an der Stelle steht, an der er mit einer Überdosis Opium im Blut ins Wasser gegangen ist, das er als seinen einzigen Ausweg an den Ort begriff, an dem die Nazis ihn garantiert nicht finden würden. Ich habe beides schon getan, und dann den Kiesel auf dem Friedhof hinter mir gelassen, ein paar hundert Meter weiter dem Rauch hinterhergesehen, wie er über dem Meer verschwindet.

Es ist ironisch, dass die Stadt Perpignan unter dem rechten Bürgermeister Louis Aliot ein besonderes Interesse daran gezeigt hat, das Centre d’Art Contemporain Walter Benjamin zu reaktivieren und auf bessere finanzielle Füße zu stellen. Es ist natürlich auch eine interessante Frage – die in den französischen und auch deutschen Feuilletons ausgiebig debattiert wurde – ob auch Rechte einem Schriftsteller und Philosophen von Benjamins Format gedenken dürfen. Und, in Anbetracht von Benjamins Schicksal und seiner überaus linken politischen Einstellung, vielleicht sogar sollten. Oder eben nicht, weil es eine unzulässige Vereinnahmung bedeutet.

Aber eigentlich soll es hier nicht um Walter Benjamin gehen. Er soll hier nur für einen älteren Prototypen stehen, die literarische Figur des Flaneurs. Gerade auch die Geschichte mit dem Kulturzentrum, und der Verbindung zu Benjamin, soll hier nur als eine von vielen Geschichten stehen, die sich in einer Stadt – jeder Stadt – entdecken lassen. Und gerade im Fall von Perpignan passt diese Verbindung sehr gut.

Das Flanieren, das ziellose Umherlaufen, das Verlaufen, ist eine offene, traditionelle Art, eine Stadt zu erkunden. Als verfluchter, niemals stillstehender Wanderer wie in Poes Mann der Menge, als detailversessener Beobachter von Nebensächlichkeiten wie bei Proust, als einer, der wie Roland Barthes – oder eben Benjamin – das kulturelle Seziermesser immer geschärft und griffbereit am Gürtel trägt. Plätze, Straßen, Cafés, Supermärkte, billige Fast-Food-Läden, halb versteckte Street-Art, kleine Kirchen, die zu langweilig sind, um in den Touristenführern zu stehen, alle diese kaum wahrnehmbaren Dinge, die doch so viel sagen können: Das erzählt sehr viel mehr über eine Stadt, über Menschen, als die längste Tour in diesen roten Doppeldeckerbussen mit offenem Verdeck.

Tatsächlich kann das Flanieren sogar ein subversiver Akt sein – ein wenig, weil man sich im Zeitalter von Google Maps schon ein wenig Mühe geben muss, wenn man sich wirklich verlaufen möchte. Weil es sowieso gar nicht so einfach ist, zu gehen und zu beobachten statt anzukommen. Ein wenig mehr, wenn das an einem Ort geschieht, der eigentlich gar nicht dafür gedacht ist dort zu verweilen – wie beispielsweise einem Bahnhof oder einem Flughafen. Oder sehr, wenn die Menschen, die da flanieren das – aus verschiedenen Gründen – nicht dürfen, oder ihre Erlebnisse im öffentlichen Raum zumindest marginalisiert sind, wie in dem aktuellen Band FLEXEN: Flâneusen* schreiben Städte (Verbrecher Verlag, 2019) in Tradition Virginia Woolfs oder George Sands aus feministischer Perspektive erzählt wird.

Der Punkt ist: Für Städte – die „Stadtschaft“ wie Benjamin es analog zur Landschaft nennt - bietet sich für diese Form der Erkundung an. Der Punkt ist auch: Die literarische Figur des Flaneurs – und der Flaneuse – ist eine, die in langer, literarischer Tradition nach wie vor viel von diesen Stadtschaften erzählen kann. Auch wenn die Form sich vielleicht nicht ändert: Die Stadt tut es. Sonst wäre sie keine Stadt. Und gerade in Perpignan träte man damit sogar in die übergroßen Fußstapfen des Über-Flaneurs Benjamin.

Die Idee ist also simpel: Einen Monat lang durch Perpignan flanieren, den Blick einerseits als Fremder auf die Stadt richten, andererseits aber eben – weil auch persönliche Verbindungen zu Frankreich im Allgemeinen in Perpignan im Besonderen bestehen - auch nicht als ganz Fremder. Jemand neues, vielleicht, der da geht und notiert, der schaut und versucht, zu verstehen. Und am Ende dann weniger fremd, weniger neu wieder nach Hause fährt – und die Geschichte seiner Reise, dessen, was er da gesehen hat, mitbringt, damit auch andere die Stadt etwas besser kennenlernen.

Also ist die Idee im Kern ein literarischer Essay an, der durchaus persönlich und poetisch gefärbt ist. Dessen Ziel aber immer sein muss, eben nicht den Beobachtenden als Figur in den Vordergrund zu stellen, sondern die Stadt als Figur zu zeichnen, als handelndes, lebendes, atmendes Wesen, das sich durch den Beobachtenden artikuliert.

Dieser wird – in einem ersten Schritt – schlicht durch den Zufall getrieben, bleibt zunächst neutral Aufzeichnender, ein Sammler, der die Hand in den Fluss der Stadt hält und schaut, was sich aus dem Fluss so herausziehen lässt.

Diese Aufzeichnungen, dieses Gesammelte, wird in einem zweiten Schritt verdichtet. Motive ergeben sich, Zusammenhänge, ein – mehr oder weniger, wie so eine Stadt nun einmal ist – kohärentes Bild formt sich. Das ist der Text, den ich mitbringen möchte: Ein Mosaik aus Eindrücken, Ideen, Referenzen, Assoziationen, das sich bei den Leser*innen erst nach und nach zu einem Bild der Stadt formt.

Es soll allerdings nicht nur Text aufgezeichnet werden, und hier würde das Projekt den Boden eines klassischen Flaneurstextes verlassen. Denn neben dem Text sollen auch Audioaufnahmen entstehen, die den Leser*innen die Atmosphäre der Stadt noch einmal näherbringen: Bahnhofsansagen, Straßenmusiker*innen, das Rauschen der Gespräche in den Bars zur Aperitifzeit, das Zirpen der Zikaden, das warme Pladdern eines Sommerregens, der über der Stadt niedergeht. Auch das bringt der akribisch Aufzeichnende mit. Dabei soll es allerdings nicht darum gehen, den Text in den Hintergrund rücken zu lassen. Vielmehr sollen diese atmosphärischen Sounds das Bett für den Text darstellen, nicht ablenkend darüber, sondern gemütlich darunter liegen. Gleichzeitig sollen sie einen Gegenpol zum Text bilden, der selbstverständlich stark subjektiv und künstlerisch bearbeitet ist. Die Sounds sollen ihn sozusagen als direkte, mehr oder weniger unbearbeitete Nachricht aus der Stadt, ergänzen und authentifizieren, gleichzeitig aber auch die Stadt ganz nah die Leser*innen und Hörer*innen heran holen.

Beides – Text und Sound – sollen als interaktive Online-Publikation präsentiert werden. Interaktiv heißt in diesem Fall: Die kurzen Textblöcke folgen keiner festgelegten Reihenfolge, nach Art eines Textadventures, und – wie bei einem richtigen Spaziergang durch eine Stadt – können die Leser*innen sich entscheiden, wohin sie gehen wollen, welches Thema, welche Straße sie weiterverfolgen wollen. Jedes Textstück ist dann in den jeweils passenden atmosphärischen Sound eingebettet. So ergibt sich, ein wenig, das Gefühl, tatsächlich vor Ort zu sein, literarisch je nach Laune durch die Stadt spazieren zu können. Die Leser/Hörer*innen werden selbst zu Flaneuren und Flaneusen in einer Stadt, die wie jede Stadt irgendwo zwischen Fiktion und Realität gebaut ist.